Die Ukraine im Aufbruch
Historiographische und kirchenpolitische Aspekte der postsozialistischen Transformation
Projekt Projektgruppe II
forost-Arbeitspapier 9 
Inhalt

Das russische imperiale Kulturparadigma und das Kulturverständnis in der Ukraine. Ein Beitrag zur Entwicklung der ukrainischen Nationalbewegung. (S. 7.-20.)
Christian Seidl

Das neuzeitliche Europa in ukrainischen Schulbüchern: Von alten Stereotypen zu neuen Sichtweisen.
(S. 21-32) 
Aleksandr Ivanov 

Staat und Kirchen während der Transformation in der Ukraine.
S. 33-56.
Katrin Boeckh 

Fallstudie: Lemberg in Galizien. Jüdisches Gemeindeleben in der Ukraine zwischen 1945 und 1953. (S. 57-71)
Katrin Boeckh 

Vorwort Die Ukraine hat sich seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 entgegen vieler internationaler Bedenken als Staat stabilisiert und etabliert, sichtbar an den zunehmenden und neuen Verbindungen politischer, wirtschaftlicher und kultureller Art zu den westeuropäischen Staaten. Unter ihnen kommt Deutschland und Bayern eine besondere Bedeutung zu. Neben der Umgestaltung der Beziehungen von Staat, Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung und Kultur zeichnen sich aber noch viel grundsätzlichere Entwicklungen ab. Denn mehr noch geht es um die Suche nach einer gemeinsamen Werteordnung als Grundlage aller dieser Bereiche, am einfachsten erklärt durch den Begriff „demokratische Zivilgesellschaft“.

Mit den Herausforderungen der politischen Neuorientierung nach dem Ende der kommunistischen Systeme sehen sich alle Transformations-Länder des östlichen Europa konfrontiert. Für die Ukraine, dem immerhin flächenmäßig größten Staat Europas, ist trotz aller bereits eingeleiteten Reformen dieser Weg nicht immer durch klare Zielsetzungen gekennzeichnet und er wirkt nach außen hin nicht immer verständlich. Besonders typisch ist hier, daß sich die Übernahme „westlicher“ Vorbilder mit dem Verharren bestehender Einstellungen sowie mit dem Aufspüren eigener vorsowjetischer Traditionen vermischt und eine eigentümliche Verbindung eingeht, die Fortschritt eher hemmt als ihn fördert.

Aspekte dieser vor allem in gesellschaftlichen Bereich bemerkbaren Problematik greift die Gruppe 2 („Kulturen im Postsozialismus“) von auf und führt sie, ausgehend von deren historischen Dimensionen und tiefer liegenden Entwicklungsursachen, bis zur unmittelbaren Gegenwart; sie erklärt die Gegenwart also aus einem komplexen Zustandekommen heraus. Die hier in Teilergebnissen vorgestellten Projekte von Bearbeitern aus München, Regensburg und Kiev zueinander und basieren jeweils auf Recherchen „vor Ort“ in der Ukraine. Im Vordergrund der vorliegenden Publikationen stehen historische und historiographische Ansätze, die sich mit Geschichte als nationaler bzw. politischer Komponente und als Schulfach in der Ukraine beschäftigen, sowie Fragestellungen zur gegenwärtigen Lage der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine als Kultur- und Nationsträger.

Einleitend und übergreifend befasst sich „Das russische Kulturparadigma und das Kulturverständnis der Ukraine“ (Christian Seidl) mit den Jahrhunderte langen Verflechtungen zwischen Russland bzw. der Sowjetunion und den Russen einerseits und den „Kleinrussen“ bzw. Ukrainern andererseits. Damit wird der Blick auf ein fortwirkendes ziemlich kompliziertes Verhältnis, nicht nur außenpolitischer Art, zwischen den unterschiedlichen Nachbarn der Ukraine,
der Russischen Föderation und dem westlichen Europa, gelenkt.

„Das neuzeitliche Europa in den ukrainischen Schulbüchern: Von alten Stereotypen zu neuen Sichtweisen“ (Aleksandr Ivanov) überprüft im Anschluß daran, wieweit in den Schulbüchern der Ukraine eine realistischere Sicht des westlichen Europa, vor allem durch eine Verdeutlichung dessen ideeller und kultureller Errungenschaften, Eingang gefunden hat. Es wird aufgezeigt, welches Europa-Bild die Schulen in der Ukraine inzwischen der jungen Generation vermitteln. 

Staat und Kirchen während der Transformation in der Ukraine“ (Katrin Boeckh) behandelt das Wiedererwachen und das Neuentstehen zahlreicher Kirchen und Religionsgemeinschaften, analysiert deren Positionierung in Staat und Gesellschaft und geht der Frage nach, ob mit der Freiheit der Religionsausübung nicht wieder eine Einbindung in die Politik verbunden ist. Die vierte Studie, „Fallstudie: Lemberg in Galizien. Jüdisches Gemeindeleben in der Ukraine zwischen 1945 und 1953“ (Katrin Boeckh), demonstriert an einem Beispiel die tiefgreifenden Zerstörungen, denen die kirchlichen Gemeinden in der Ukraine durch die Verfolgungen während der sowjetischen Zeit unterworfen waren, und von denen sie sich in der Gegenwart wieder erholen müssen.

Insgesamt trägt durch Detail-Studien innerhalb der Thematik der Gruppe II zur Kenntnis insbesondere gesellschaftlicher Problemfelder bei und gibt Hilfestellung für einen weiteren und tragfähigen Ausbau der Begegnungen mit der Ukraine, einem Land, dessen Annäherung an die westeuropäische Staatengemeinschaft sich in der Zukunft noch weiter intensivieren wird.

November 2002

Horst Glassl (Ludwig-Maximilians-Universität München)
Ekkehard Völkl (Universität Regensburg)


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