Vorwort |
Die Ukraine hat sich seit dem Zerfall der
Sowjetunion 1991
entgegen vieler internationaler Bedenken als Staat stabilisiert und etabliert,
sichtbar an den zunehmenden und neuen Verbindungen politischer,
wirtschaftlicher und kultureller Art zu den westeuropäischen Staaten. Unter
ihnen kommt Deutschland und Bayern
eine besondere Bedeutung zu. Neben der
Umgestaltung der Beziehungen von Staat, Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung und
Kultur zeichnen sich aber noch viel grundsätzlichere Entwicklungen ab. Denn
mehr noch geht es um die Suche nach einer gemeinsamen Werteordnung als Grundlage
aller dieser Bereiche, am einfachsten erklärt durch den Begriff „demokratische
Zivilgesellschaft“.
Mit den Herausforderungen der politischen Neuorientierung
nach dem Ende der kommunistischen Systeme sehen sich alle
Transformations-Länder des östlichen Europa konfrontiert. Für die Ukraine, dem
immerhin flächenmäßig größten Staat Europas, ist trotz aller bereits
eingeleiteten Reformen dieser Weg nicht immer durch klare Zielsetzungen
gekennzeichnet und er wirkt nach außen hin nicht immer verständlich.
Besonders
typisch ist hier, daß sich die Übernahme „westlicher“ Vorbilder mit dem
Verharren bestehender Einstellungen sowie mit dem Aufspüren eigener
vorsowjetischer Traditionen vermischt und eine eigentümliche Verbindung
eingeht, die Fortschritt eher hemmt als ihn fördert.
Aspekte dieser vor allem in gesellschaftlichen Bereich
bemerkbaren Problematik greift die Gruppe 2 („Kulturen im Postsozialismus“) von
auf und führt sie, ausgehend von deren historischen
Dimensionen und
tiefer liegenden Entwicklungsursachen, bis zur unmittelbaren Gegenwart; sie
erklärt die Gegenwart also aus einem komplexen Zustandekommen heraus. Die hier
in Teilergebnissen vorgestellten Projekte von Bearbeitern aus München,
Regensburg und Kiev zueinander und basieren jeweils auf Recherchen „vor Ort“ in
der Ukraine. Im Vordergrund der vorliegenden Publikationen stehen historische
und historiographische Ansätze, die sich mit Geschichte als nationaler bzw.
politischer Komponente und als Schulfach in der Ukraine beschäftigen, sowie
Fragestellungen zur gegenwärtigen Lage der Kirchen und Religionsgemeinschaften
in der Ukraine als Kultur- und Nationsträger.Einleitend und übergreifend befasst sich „Das russische
Kulturparadigma und das Kulturverständnis der Ukraine“ (Christian Seidl) mit
den Jahrhunderte langen Verflechtungen zwischen Russland bzw. der Sowjetunion
und den Russen einerseits und den „Kleinrussen“ bzw. Ukrainern andererseits.
Damit wird der Blick auf ein fortwirkendes ziemlich kompliziertes Verhältnis, nicht
nur außenpolitischer Art, zwischen den unterschiedlichen Nachbarn der Ukraine,
der Russischen Föderation und dem westlichen Europa, gelenkt.
„Das neuzeitliche
Europa in den ukrainischen Schulbüchern: Von alten Stereotypen zu neuen
Sichtweisen“ (Aleksandr Ivanov) überprüft im Anschluß daran, wieweit in den
Schulbüchern der Ukraine eine realistischere Sicht des westlichen Europa, vor
allem durch eine Verdeutlichung dessen ideeller und kultureller
Errungenschaften, Eingang gefunden hat. Es wird aufgezeigt, welches Europa-Bild
die Schulen in der Ukraine inzwischen der jungen Generation vermitteln.
Staat und Kirchen während der Transformation in der
Ukraine“ (Katrin Boeckh) behandelt das Wiedererwachen und das Neuentstehen
zahlreicher Kirchen und Religionsgemeinschaften, analysiert deren
Positionierung in Staat und Gesellschaft und geht der Frage nach, ob mit der
Freiheit der Religionsausübung nicht wieder eine Einbindung in die Politik
verbunden ist. Die vierte Studie, „Fallstudie: Lemberg in Galizien. Jüdisches
Gemeindeleben in der Ukraine zwischen 1945 und 1953“ (Katrin Boeckh),
demonstriert an einem Beispiel die tiefgreifenden Zerstörungen, denen die
kirchlichen Gemeinden in der Ukraine durch die Verfolgungen während der
sowjetischen Zeit unterworfen waren, und von denen sie sich in der Gegenwart
wieder erholen müssen.
Insgesamt trägt durch Detail-Studien innerhalb der
Thematik der Gruppe II zur Kenntnis insbesondere gesellschaftlicher
Problemfelder bei und gibt Hilfestellung für einen weiteren und tragfähigen
Ausbau der Begegnungen mit der Ukraine, einem Land, dessen Annäherung an die
westeuropäische Staatengemeinschaft sich in der Zukunft noch weiter
intensivieren wird.
November 2002
Horst Glassl (Ludwig-Maximilians-Universität
München)
Ekkehard Völkl (Universität Regensburg)
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