EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen sagte vor der EU-Erweiterung zur Einstellung der Tschechen gegenüber der Europäischen Union: "Wenn es einen Nobelpreis für Skeptizismus gäbe, würden ihn die Tschechen jedes Jahr bekommen." Diese Worte werden noch heute in Tschechien und Deutschland häufig zitiert. Dabei werden die Spezifik und Zielrichtung des tschechischen Skeptizismus nicht näher bestimmt. Das ist aber von grundlegender Bedeutung, weil erst dann die konkreten Gegenstände einer notwendigen wissenschaftlichen Analyse deutlich erkennbar würden.
Grundsätzlich nimmt der Skeptizismus zweierlei Gestalt an. Zum einen gelten tschechische Kritik und Skeptizismus hauptsächlich der aktuellen Realität der Europäischen Union. Die unübersichtliche Bürokratie ist in Tschechien dabei ein besonderer Dorn im Auge. Solche Skepsis lässt sich auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten erkennen. Sie ist mehr als verständlich, zeitigt aber keine schwerwiegenden Folgen. Zum anderen zeichnet sich ein sehr viel ernster zu nehmende spezifische Skepsis gegenüber dem Projekt eines gemeinsamen Europa ab. Dieser Skeptizismus zeitigt hingegen sehr wohl Folgen.
Die notwendige Differenzierung zwischen der Kritik an der EU und der Skepsis gegenüber einem gemeinsamen europäischen Weg wird dadurch erschwert, dass sich die zwei genannten Formen des Skeptizismus überschneiden. Viele kritische Stellungnahmen wenden sich explizit gegen das Projekt Europa, meinen in Wahrheit häufig nur die EU oder den Westen Europas.
So vermischt sich die Detailkritik an absurden Bestimmungen zur Bananen- und Gurkengrößen mit einer sehr viel schwerwiegenderen kritischen Einstellung zu einer allmächtigen, ungewählten Brüsseler Bürokratie. Antieuropäisch eingestellte Populisten werfen dieser einerGeheimsprache vor, die eine Mehrheit ausschließen solle und nur darauf abziele, alle und jeden zu betrügen. Eine solch einseitige Kritik fasst von vornherein ein gemeinsames europäische Projekt nicht ins Auge.
Trotz der ständigen Überschneidungen und Überlagerungen zwischen antieuropäischen und EU-feindlichen Diskursen muss zwischen beiden deutlich differenziert werden. In dieser Differenzierung liegt eine wesentliche Zielsetzung diese Projekts.
Die tschechische Elite nimmt sich hingegen des Projekts Europa konstruktiv an. Sie versteht sich als Teil Europas. Dies wird nicht nur in Tschechien für den Erfolg des Projekts eines gemeinsamen Europa als entscheidend angesehen. Diese tschechische Elite misst antieuropäischen und EUfeindlichen Diskursen eine überraschend hohe Bedeutung bei und hält sie für mehr als nur eine ungefährliche Kritik an den aktuellen Realitäten der Europäischen Union. Václav Havel, einer der größten Befürworter des europäischen Projekts, sprach als Staatspräsident die Spezifik des tschechischen Skeptizismus in einem Interview an: "Ich denke, dass dieser EU-Skeptizismus, speziell in Tschechien, eine ganz eigene sozial-historisch verwurzelte Erklärung hat. Es existiert hier diese eigenartige Tradition einer sehr paradoxen Kombination von einerseits Kollaboration und andererseits patriotischem Geschrei. Und ich sehe in diesem Euroskeptizismus, mit der Betonung der nationalen Souveränität und einer Bedrohung des Nationalstaats, so etwas wie den möglicherweise unbewussten Ausdruck dieser eigenartigen, bizarren kulturellen, geistigen sowie politischen Tradition. Ich selbst möchte mich nicht an diese Tradition halten, sondern mich ihr vielmehr entgegenstellen."
Es wäre also falsch, tschechische antieuropäische Diskurse als politisch, oder gar nur als innenpolitisch motivierte Aussagen einzuschätzen. Sie haben vielmehr eine tiefere, kulturelle Dimension. Das Misstrauen Europa gegenüber hat in Tschechien Tradition. Diese gilt es in Rahmen des Projekts angemessne zu berücksichtigen. An dem Denkmal zum Sieg der Hussiten auf dem Berg Vítkov in Prag steht noch heute die Inschrift: "Eine kleine Handvoll Leute besiegte die Reihen der bewaffneten Verbündeten, denn sie waren von ihrer Wahrheit überzeugt. Damals existierten zwei Seiten: Europa und wir. Und Europa war blass und leichenfaul [. . .]." Die Inschrift dokumentiert sowohl den tschechischen Nationalstolz als auch die Bewunderung für den überlegenen Gegner "Europa".
Solche Feindbilder, die sich in Stereotypen verfestigen, erweisen sich nicht nur in Tschechien als äußerst langlebig: Sie verschwinden für Jahre von der gesellschaftlichen Oberfläche, um dann plötzlich in tatsächlichen oder eingebildeten Konfliktsituationen wieder belebt zu werden. Einen wesentlichen methodischen Ansatzpunkt für die Untersuchung antieuropäischer Diskurse stellt deshalb die Stereotypenforschung dar.
Der Versuch, Europaskeptizismus als eine Reaktion auf konkrete Europapolitik zu interpretieren, berücksichtigt nicht die komplexe "mentale Küche", in deren Rahmen menschliche Gruppen agieren. Jeder Versuch die Reaktion einer menschlichen Gruppe als eine kausalbedingte zu verstehen, wird wohl scheitern. Die Komplexität der gesamten Kultur muss auch tradierte Haltungen, übernommene Konzepte, überlieferte Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten auch berücksichtigen.
Eine besondere Bedeutung kommt den "Sprachgepflogenheiten" (Hahn) zu, weil Sprache weite Bereiche der Emotionen und Weltwahrnehmung und damit mentale Haltungen prägt. Diese sprachlich-kulturelle Spezifik wird sehr deutlich, wenn man auf Tschechisch nicht von "Evropská unie", sondern von "Evropský svaz" spricht und durch diese sprachliche Nähe der Europäischen Union mit der Sowjetunion erstere abwertet.
In dieser, in der wissenschaftlichen Analyse immer zu berücksichtigen "mentalen Küche", sind die Konzepte und auch die sprachlichen Ausdrucksmittel samt der Emotionen und Wertungen schon vorprogrammiert. Zu diesen Ausdrucksmitteln gehören auch nicht-sprachliche Bilder und Stereotypen. Im Kontext der antieuropäischen Diskurse müssen tschechische Reaktion auf dem gesamtkulturellen Hintergrund gesehen werden. Im Gegensatz zu Begriffen, die auf Erfahrungen beruhen und eine kognitive Funktion haben, zeichnen sich Stereotypen durch ihre emotionale Geladenheit und einen apriorischen Charakter aus. Sie sind nicht verifizierbare Werturteile, bei denen reale Erfahrungen nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Da Stereotypen meistens dem menschlichen Orientierungsbedürfnis dienen, überrascht es nicht, dass sich gerade in Zeiten des Umbruchs meist ein zunehmender Gebrauch von Stereotypen feststellen lässt. Durch Stereotypen schaffen Gesellschaften Gemeinsamkeiten oder grenzen sich von anderen ab. Das Individuum bedient sich ihrer, um komplizierte Sachverhalte zu vereinfachen und zu verstehen. Tschechien befindet sich derzeit in einer solch "stereotypogenen" Situation, dass Bedrohungsängste - egal ob berechtigt oder nicht - neue Stereotypen hervorrufen und alte zu neuem Leben erwecken. Durch die Analyse dieser tschechischen Autostereotypen und Heterostereotypen in konkreten Texten soll die tschechische Befindlichkeit in Bezug auf Europa beleuchtet werden und somit das aktuelle nationale Bewusstsein beschrieben werden.
Im Kontext der identitätsstiftenden Rolle von Stereotypen wäre nicht nur nach tschechischen Stereotypen zu fragen. Von einem besonderen aktuellen Interesse ist vielmehr auch die Frage, ob neue europäische Stereotypen generiert werden, ob sie mit nationalen tschechischen Stereotypen polemisieren oder diese gar ablösen. Erst die Resultate dieser Analysen werden eine Einsicht in die emotionale Dimension des Projekts Europa eröffnen. Erst auf diesem Wege können wir zu Erkenntnissen über den Fortschritt bei der Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Identität in Tschechien gelangen.
In Anlehnung an die Methodik der historischen Stereotypenforschung sollen mehrere konkrete Quellen erforscht werden. Bildquellen wie Karikaturen, oder Comics sind schon wegen ihrer großen Verbreitung für die Stereotypenforschung wesentlich. Zum Beispiel verbindet die Fahne tschechischer EU-Skeptiker die Sterne der EU-Fahne mit dem roten Feld und den Emblemen der UdSSR. Berücksichtigt man die jüngere tschechische Geschichte, dann dürfte einem so symbolisierten gemeinsamen europäischen Projekt eine äußerst emotionale Wahrnehmung sicher sein. Alte Ängste werden wieder wach gerufen, jetzt aber in Hinblick auf Europa.
Die Publizistik, vor allem die Tagespresse und Zeitschriften, stellt eine bevorzugte Quelle historischer Stereotypenforschung dar und wird deshalb auch in diesem Projekt eine herausragende Rolle spielen. Im besonderen Fall Tschechiens sollte sich die besondere Polarität der publizistischen Erzeugnisse widerspiegeln. Zum einen werden die literarische Wochenzeitung Literární noviny, das Journal für Mitteleuropa Strední Evropa, Prítomnost, die Zeitschrift für politische Kultur und die Zivilgesellschaft Listy und Lidové noviny, zum anderen die viel gelesene Tageszeitung Blesk, in etwa ein pendant der deutschen Bildzeitung, untersucht.
Erstere Periodika stellen ein intellektuelles Forum für das Thema Europa dar und gehören zur Pflichtlektüre der tschechischen Eliten, von denen das Projekt eines gemeinsamen Europa wesentlich abhängt. Die dort geführten antieuropäischen Diskurse dürften deshalb von größter Bedeutung sein. Die Untersuchung und der Vergleich mit der meistgelesenen Zeitung der Regenbogenpresse Blesk soll dazu führen, die Frage nach der Verbreitung antieuropäischer Diskurse in weiteren Bevölkerungskreisen zu überprüfen und die gesamtgesellschaftliche Homogenität oder Heterogenität antieuropäischer Diskurse festzustellen.
Bei der Untersuchung publizistischer Texte stellt sich stets die Frage, ob die Publizistik meinungsbildend oder meinungsreproduzierend ist. Diese lässt sich aber erst über die Einzelfälle beantworten. Neben den in den Zeitungen veröffentlichten Artikeln sollen auch Reaktionen auf diese in die Analyse einbezogen werden. Dadurch lässt sich auch eine Dimension des aktuellen gesellschaftlichen Dialogs erfassen. Solche Reaktionen stellen einerseits Leserbriefe dar, andererseits sehr unterschiedlich genutzte Internetforen der Zeitungen. Die Wirkung antieuropäischer Beiträge lässt sich dabei an einer ganzen Reihe von Parametern überprüfen (Hits, Meinungsvielfalt). Ergänzend soll die Erforschung kritischer elektronischer Foren wie etwa http://euroskeptik.cz und www.europortal.cz sowie deren Zähler zeigen, welche Resonanz das Thema findet.
Schließlich kommt der humoristischen Belletristik als dem dritten Typus von Quellen ein zentraler Platz in diesem Projekt zu. Hier ist vor allem der Witz in Hinblick auf Europa und Tschechien, den es zu untersuchen gilt. Er bedient sich häufig bekannter, aber unausgesprochener Stereotypen, kombiniert sie lediglich neu, um durch überraschende Verbindungen Lachen hervorzurufen. Hierbei wird die spezifische humoristisch-literarische Situation der tschechischen Kultur besonders berücksichtigen zu sein. Der humoristischen Belletristik dürfte bei der Identifizierung von, dem Umgang mit und der Überwindung von tradierten Denkweisen, Auto- und Heterostereotypen eine besondere Bedeutung zukommen. Die Analysen der Quellen erfolgen damit bereits auf einem diachron verstandenen kulturellen Kontext.
Das Projekt soll sich aber zudem nicht nur auf den gegenwärtigen Stand antieuropäischer und EU-feindlicher Diskurse beschränken, wenngleich dieser der Ausgangspunkt ist. Vielmehr soll durch einen diachronen Vergleich dreier Zeitabschnitte - der Zeit um die sogenannte "Wende" (1989-1990), der Phase kurz vor und nach der EU-Osterweiterung (2003-2004) und der jüngsten Zeit (2005-2007) - die dynamische Entwicklung dieser Diskurse erfasst werden. Dabei wird zu überprüfen sein, ob sich antieuropäische Diskurse bzw. EU-feindliche Diskurse intensivieren oder ob es zu anderen Verschiebungen in der skeptischen Haltung kommt. Ziel des Projekts ist es somit, einerseits das sich in den Diskursen niederschlagende nationale Bewusstsein und die mit dem Projekt Europa verbundenen Ängste der Tschechen darzustellen. Andererseits soll der Prozess der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität in Hinblick auf seine Gefahren, aber auch eine mögliche Vertiefung überprüft werden.
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